Starke Brücke in die Berufsbildung – Integrationsvorlehre INVOL für migrierte und geflüchtete Personen

Ein Beitrag aus dem Newsletter 12.03.24 von „Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis ist eine Fachzeitschrift für Berufsbildung in der Schweiz.“ herausgegeben von der SGAB (Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung).

Stalder, B. E., & Schönbächler, M. (2024). Starke Brücke in die Berufsbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(5).

Die Integrationsvorlehre (INVOL) ist ein Erfolg. Mehr als 80 Prozent haben sie erfolgreich abgeschlossen. Nach dem Abschluss haben rund 70 Prozent eine zwei- oder dreijährige berufliche Grundbildung (EBA oder EFZ) aufgenommen. Dies zeigt die jüngste Evaluation des Programms durch die PHBern. Sie macht auch qualitative Befunde: So nehmen die Ausbildenden die Teilnehmenden meist als engagierte Personen wahr. Knapp drei Viertel der Teilnehmenden erreichen im mündlichen und rund 90 Prozent im schriftlichen Bereich das angestrebte Sprachniveau. In den ersten fünf Programmjahren haben mehr als 4000 Personen an einer INVOL teilgenommen. Ab Sommer 2024 wird das Bundesprogramm in den teilnehmenden Kantonen als Regelangebot verstetigt.

Seit knapp sechs Jahren gibt es sie und sie hat sich bereits etabliert: die Integrationsvorlehre (INVOL). Das einjährige Brückenangebot bietet anerkannten Flüchtlingen, vorläufig Aufgenommenen und spät migrierten jungen Menschen im Alter zwischen 16 und rund 35 die Möglichkeit, sich auf eine berufliche Grundbildung vorzubereiten. Gleichzeitig soll damit in Branchen mit Fachkräftemangel für qualifizierten Nachwuchs gesorgt werden. Die INVOL wird in 18 Kantonen und in verschiedenen INVOL-Berufsfeldern angeboten, u.a. im Baugewerbe, im Detailhandel, in der Gastronomie, im Gesundheitswesen oder in der Logistik.

In den ersten fünf Programmjahren haben mehr als 4000 Personen an einer INVOL teilgenommen. Mehr als 80 Prozent haben sie erfolgreich abgeschlossen. Nach dem Abschluss haben rund 70 Prozent eine zwei- oder dreijährige berufliche Grundbildung (EBA oder EFZ) aufgenommen. Ein Erfolg, der sich sehen lassen kann.

Der Bund hat gemeinsam mit den Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt Eckpunkte für die Ausgestaltung der INVOL erarbeitet (Staatssekretariat für Migration, 2020). Dazu gehören die berufsfeldbezogene duale oder triale Ausbildung in Betrieben, Berufsfachschulen und je nach Branche auch in überbetrieblichen Kurszentren, die berufsfeldbezogene Sprachförderung, die Vermittlung von arbeitsrelevanten Normen und Werten sowie die begleitende individuelle Unterstützung von Teilnehmenden und Betrieben. Die Kantone sind für die Umsetzung zuständig. Sie stellen sicher, dass das Angebot in die kantonale Bildungslandschaft passt, rekrutieren die Ausbildungsbetriebe und sind für die Potenzialabklärung und Triage der Teilnehmenden verantwortlich. Die Kantone legen zudem fest, wie viele und in welchen INVOL-Berufsfeldern Plätze vergeben werden. In den meisten Kantonen wird die INVOL ähnlich wie die zweijährigen beruflichen Grundbildungen organisiert.

Die Pädagogische Hochschule Bern begleitet die Einführung des neuen Bildungsprogramms in einem Evaluations- und Forschungsprojekt (vgl. Kasten). Sie untersucht die Ausbildungsqualität und den Ausbildungserfolg der Teilnehmenden und zeigt auf, welche Gelingensbedingungen für den nachfolgenden Einstieg in eine berufliche Grundbildung entscheidend sind. Über ausgewählte Ergebnisse wird hier berichtet.

Die Teilnehmenden

An der schriftlichen Befragung haben sich mehr als 2700 INVOL-Teilnehmende beteiligt. Sie kommen gemäss eigenen Angaben aus rund 90 verschiedenen Ländern, am häufigsten (zwei Drittel) aus Eritrea, Afghanistan und Syrien. Durchschnittlich sind sie 25 Jahre alt. Drei Viertel sind männlich.

Hohe Ausbildungsqualität

Eine hohe Ausbildungsqualität in Betrieb, Schule und überbetrieblichen Kurszentren sowie die enge Verzahnung schulischer und betrieblicher Lerninhalte sind wichtige Voraussetzungen, um die Teilnehmenden effektiv zu fördern. Kompetente Ausbildende unterstützen den Lernprozess, indem sie ein vertrauensvolles Umfeld schaffen, den Teilnehmenden lehrreiche Aufgaben bieten, ihnen bei Fragen zur Seite stehen und sie motivieren. Letzteres ist, so eine interviewte Lehrperson, entscheidend: «Und es ist unsere Aufgabe, sie zu motivieren. […]. Und es geht darum, ihnen auch zu zeigen, dass man mit Freude und Motivation alles im Leben erreichen kann.» (EN §76) (Michel et al., 2023).[1]

Die Teilnehmendenbefragung bestätigt, dass die meisten auf ein lernförderliches Umfeld stossen. Rund 80 Prozent der Befragten finden ihre Arbeit oft oder sogar fast immer interessant. Sie können im Betrieb viel Neues lernen und das, was sie schon wissen und können, anwenden. Auch das Lernen in der Berufsfachschule beurteilen rund 80 Prozent positiv. Der Unterricht ist interessant und lehrreich und drei Viertel der Teilnehmenden können ihre bisherigen Kenntnisse weiter vertiefen. Der Lerntransfer zwischen Betrieb und Schule gelingt meist gut. So geben rund 70 Prozent der Befragten an, dass ihnen das, was sie in der Schule lernen, bei der Arbeit im Betrieb oft oder fast immer hilft; und umgekehrt können rund die Hälfte der Teilnehmenden das, was sie im Betrieb gelernt haben, in der Schule gut brauchen. Oder wie es ein Teilnehmender formuliert: «Was mein Lehrer erklärt, finde ich meist bei meiner Arbeit. Das gefällt mir sehr gut! Was ich in der Schule lerne, finde ich auf den Baustellen.» (PPAI §169).[2]

Interinstitutionelle Zusammenarbeit, enge Begleitung

Die INVOL stützt sich auf eine starke interinstitutionelle Zusammenarbeit. Neben der in der Berufsbildung etablierten Lernortkooperation zwischen Betrieben und Schulen sind Verantwortliche aus Migrationsämtern und Sozialdiensten eingebunden. Die Fallstudien verdeutlichen, dass die interinstitutionelle Zusammenarbeit für den Ausbildungserfolg der Teilnehmenden zentral ist – und gleichzeitig nicht immer einfach. Der Aufwand, sich gegenseitig zu informieren, die Zuständigkeiten und Prozesse zu klären und die Teilnehmenden individuell zu unterstützen, ist hoch. So meint eine als Ansprechperson fungierende Person: «Wir haben sehr knappe Zeitressourcen. Das ist ein grosses Problem. Aber wir versuchen halt als eine Art Case-Manager irgendwie mit allen Stellen in Kontakt zu bleiben.» (ASP §31).

Die Begleitung der Teilnehmenden ist anspruchsvoll. Betriebliche Ausbildende, Lehrpersonen und Coaches werden häufig zu engen Bezugspersonen. Diese sind sich ihrer besonderen Aufgabe bewusst und setzen viel Wert darauf, auf die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmenden einzugehen. Eine Lehrperson: «Das bedeutet, dass du auch ein Gespür für den Jugendlichen haben musst, egal ob Junge oder Mädchen. Man muss sich in ihn hineinfühlen, denn man passt sich ihm an. Das ist es. Also passt man sich an.» (EN § 99).[3] So betreuen gewisse Lehrpersonen Teilnehmende mit besonderem Lernbedarf auch nach Abschluss des Unterrichts, oder Mitarbeitende im Betrieb helfen bei den Hausaufgaben und bei privaten Anliegen. Für manche bietet der Betrieb einen familiären Rahmen. So formuliert ein Teilnehmer: «Sie [die Ausbildenden] […] sind wie unsere Familie, [wie ein] Vater» (TN §216). Eine individuelle Unterstützung ist besonders für Geflüchtete, die ohne Familie in der Schweiz sind, wichtig. Eine Ansprechperson betont: «[Für] junge Menschen, die in die Schweiz kommen, ist alles völlig neu. […]. Sie haben keine Eltern hier, die ihnen Entscheidungen abnehmen. Man muss schon anders auf diese Leute zugehen» (ASP §110).

Engagierte Teilnehmende

Die Ausbildenden nehmen die Teilnehmenden als engagierte Personen wahr. Sie seien meist gut bei der Sache, gäben sich Mühe, seien interessiert und sehr motiviert. Gemäss einzelner Berufsbildender unterscheide sie dies zum Teil auch von anderen (regulären) Lernenden: «Er [der Teilnehmer] hat wirklich die Motivation. Manchmal sind wir es, die Stopp sagen (FE §74). […]. Das ist etwas, was ich im Moment bei meinen normalen Lernenden nicht finde.» (FE §31).[4] Zudem würden die Teilnehmenden Arbeits- und Lebenserfahrungen mitbringen, die sie gewinnbringend einbringen. Dazu eine Lehrperson: «Er hat auch in seinem Heimatland schon diverse Sachen gemacht. Das ist einfach nicht ein 17-Jähriger, der neun Jahre in die Schule ging, behütet. Sondern der musste zu sich schauen. Und das kann er. Darauf kann man natürlich extrem aufbauen als Lehrperson. Genau gleich wie im Geschäft» (SA §157).

Die Teilnehmenden geben denn auch mehrheitlich an, dass sie im Betrieb (93%) und der Schule (86%) oft oder immer «ihr Bestes» gäben. Nicht immer fällt ihnen das leicht. Lehrpersonen und Coaches betonen, dass mangelnde Sprachkompetenzen, Lernschwierigkeiten, gesundheitliche Probleme und die Sorge um im Herkunftsland zurückgebliebene Familienmitglieder das Arbeiten und Lernen erschweren. Eine Ansprechperson fasst zusammen: «Es ist schwierig, Fortschritte zu machen, weil sie jede Nacht Albträume haben und die Dinge wieder erleben, sie sind traumatisiert, in Bezug auf die Konzentration und Merkfähigkeit ist es also sehr schwierig.» (réf §134).[5] In solchen Situationen ist die enge Begleitung der Geflüchteten besonders wertvoll.

Gute Kompetenzen am Ende der INVOL

Die berufsbezogene Sprachförderung und die Vermittlung von praktischen Kompetenzen sind wichtige Eckpfeiler der INVOL. Die Teilnehmenden sollen ihre Sprachkompetenzen weiterentwickeln und am Ende der INVOL mündlich das Niveau B1 bis B2 und schriftlich das Niveau A2 erreichen. Die kantonalen Montoringdaten zeigen, dass knapp drei Viertel der Teilnehmenden im mündlichen und rund 90 Prozent im schriftlichen Bereich das angestrebte Sprachniveau erreichen. Gemäss den Lehrpersonen und betrieblichen Ausbildenden besteht in Bezug auf die Sprachförderung jedoch noch Handlungsbedarf. Eine Lehrperson: «Wir wissen es haargenau: das mit dem Deutsch ist das grösste Problem. Du kannst auch im Math schlecht bestehen, wenn du die Aufgabe nicht verstehst, sei es mündlich oder schriftlich formuliert. Darum haben wir eigentlich schon extrem viel [Wert] auf Deutsch gelegt» (SA §112). Oder positiv formuliert: «Wirklich, es ist die Sprache. Aber da er sich verbessert, seine Techniken verbessert, habe ich den Eindruck, dass sich die Fähigkeiten entfalten, wenn er das Französisch tatsächlich verbessert.» (EN §44).[6]

Positiv fällt die Beurteilung der praktischen Kompetenzen aus: Gemäss Angaben der Kantone schliessen mehr als 85 Prozent der Teilnehmenden die INVOL mit guten oder sogar sehr guten praktischen Kompetenzen in ihrem Berufsfeld ab. Drei Viertel sind gemäss Schlussbeurteilung geeignet, eine berufliche Grundbildung anzutreten.

Fazit

Insgesamt lässt sich aus der Evaluation eine positive Zwischenbilanz ziehen. Die INVOL ist auch nach fünf Jahren attraktiv – für anerkannte Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene und zunehmend auch für spät Migrierte. Die befragten Teilnehmenden sind sehr zufrieden mit der INVOL. Sie sehen in ihr die Chance, eine Berufsabschluss zu erreichen und sich eine berufliche Zukunft aufzubauen. Auch die betrieblichen Ausbildenden sind mehrheitlich zufrieden mit der INVOL. Viele bieten den Teilnehmenden an, nach der INVOL in ihrem Betrieb eine berufliche Grundbildung in Angriff zu nehmen (vgl. dazu Kammermann et al., 2020; Stalder & Schönbächler, 2020).

Die insgesamt positive Bilanz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die INVOL nicht in allen Fällen zum erfolgreichen Abschluss und Übertritt in eine berufliche Grundbildung führt. Es gibt Geflüchtete und spät Zugewanderte, die aufgrund der Potenzialanalyse nicht in die INVOL aufgenommen werden oder sich entscheiden, trotz Eignung nicht am Programm teilzunehmen. Andere beginnen die INVOL, schliessen sie aber nicht ab. Wieder andere finden nach der INVOL keine Anschlusslösung, entscheiden sich gegen eine berufliche Grundbildung oder können aus persönlichen, gesundheitlichen oder familiären Gründen keine solche antreten. Die überwiegend positiven Evaluationsergebnisse stehen also mehrheitlich für Teilnehmende, denen es gelungen ist, gemeinsam mit ihren Ausbildenden und Begleitpersonen mit diesen Herausforderungen zurechtzukommen.

Unter anderem aufgrund der positiven Bilanzierung wird die partnerschaftlich getragenen INVOL in den teilnehmenden Kantonen als Regelangebot weitergeführt. Wie nachhaltig sich dieses bei Ausbildungsbetrieben, Geflüchteten und spät Zugewanderten als attraktives Brückenangebot positionieren lässt, wird sich im Lauf der nächsten Jahre weiter erweisen. Letztlich wird sich der Erfolg der INVOL auch am erfolgreichen Berufsabschluss der ehemaligen INVOL-Teilnehmenden messen müssen und daran, ob das Programm einen merklichen Beitrag zur Linderung des Fachkräftemangels leisten kann.

[1] « Puis nous, notre rôle, c’est de les motiver. […]. Et c’est de leur montrer aussi qu’avec l’envie et la motivation, tu peux arriver à tout faire dans la vie. »
[2]  « Je trouve plutôt ce que mon prof explique dans mon travail. J’aime bien ça ! Ce que j’étudie à l’école je le trouve sur les chantiers »
[3] « Ça veut dire que tu dois aussi avoir un ressenti du jeune, garçon ou fille. Par rapport il faut vraiment ressentir, parce qu’on adapte par rapport à lui aussi. C’est ça. Donc on s’adapte. »
[4] « Il [le participant] a vraiment la motivation. Des fois, c’est nous qui allons dire stop. […]. C’est quelque chose qu’à l’heure actuelle je ne trouve pas chez mes apprentis normaux »
[5] « C’est difficile d’avancer parce qu’ils ont toutes les nuits des cauchemars et revivent les trucs, c’est des postes traumatisés, donc au niveau de la concentration, de la mémorisation, c’est très difficile »
[6] « Vraiment, c’est la langue. Mais comme il s’améliore, s’améliorent ses techniques, j’ai l’impression que les compétences se découvrent à mesure qu’il améliore le français en fait »

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